Miloš Mikeln

geboren 1930 in Celje, Dramatiker und Schriftsteller, mehrere Dramen und Romane,
das bisher umfangreichste Werk "Veliki voz" ( Der grosse Wagen ), eine Familienchronik vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse in der Zeit vom 1. Weltkrieg bis zum Ende des 2. Weltkrieges.
1981 - 1987 Präsident des slowenischen PEN-Zentrums, im internationalen PEN lange Jahre Mitarbeit in der Arbeitsgruppe "Writers in prison".

VELIKI VOZ
Der große Wagen

Dann der Feiertags-Gottesdienst in Stein. Für die Einheimschen, selbstverständlich, die Kärntner, die Österreicher. Klarerweise hatte die Filialkirche kein Anrecht auf eine Prozession. Die Familie der BAVŠ und die beiden KAČNIK knieten während der Messe in den schmalen Winkeln hinter der Orgel und drückten sich an das kalte Gemäuer und versuchte so zu tun, als gäbe es sie gar nicht. Marija stand dicht hinter Franček, so als müsste sie ihm, wie bei einem richtigen Konzert die Notenblätter wenden, wozu sie gar nicht im stande gewesen wäre. Es war auch nicht notwendig, auch Franček wendete die Notenblätter nicht, er spielte auswendig. Die Chorsänge von stein sangen ihre Gesände, als wären sie allein auf der Empore, sie taten so, als sähen sie diese fremden, jungen Familien und Kinder gar nicht. Bei Frančeks Spiel aber mussten sie etwas mehr als gewähnlich aufpassen, dass sie die Melodie hielten, denn der Organist versah sie mit zusätzlichen Figuren und Übergängen. Davun aber wurde die Musik nur noch schöner, auch ihr bescheidenes Singen gewann dadurch, sodass sie sich, so gut sie es konnten, bemühten, zu guter letzt waren sie dem Organisten dankbar und stolz auf sich selbst. Als sie mit den Messliedern zu Ende waren, folgte, wie immer am Schluss der Messe, das Nachspiel des Organisten, während dem sich die Menschen gewähnlich schon von den Bänken erhoben und langsam die Kirche verließen. Diesmal aber blieben die, die schon auf dem Weg aus der Kirche waren, stehen, die anderen aber blieben in ihren Bänken sitzen. Franček spielte wundersam heimische und doch der Mehrzahl unbekannte Weisen. Die Melodien ähnelten jenen der Lieder, die sie selbst - die Burschen an Sommer-Sonntagabenden im Dorf oder die Frauen bei gemeinsamen Verrichtungen auf der Tenne oder in der Harpfe - sangen. Und dennoch waren die Klänge neu, anders, eigenartig. Und Franček spielte so schön, dass einem das Herz übergehen konnte.

Franček spielte slowenische Volkslieder KJE SO TISTE STEZICE (Wo sind die schmalen Pfade hin), LIPA ZELENELA JE (Der Lindenbaum ergrünte), SONCE SIJALO BO, VODA ŠUMELA BO, NAJINE LJUBEZNI PA NIČ VEČ NE BO (Die Sonne wird scheinen, das Wasser rauschen, aber unsere Liebe wird zu Ende sein). Er verstand es, die Melodie einstimmig anzuspielen, ihr dann eine zweite Stimme zuzuordnen, sie im dritten Anlauf vierstimmig zu wiederholen, dann alle Register zu ziehen und in die Pedale zu treten, dass die Kirche in mächtige Akkorde eingehüllt wurde, dass die einfache Volksweise erklang als wäre sie eine Symphonie. Dann entflocht er die Melodienstränge wieder zu feinen Rinnsalen, als ginge ein Mensch flussaufwärts dem Ursprung zu, wo sich der breite Fluss in einen dünnen Wasserstrahl zurückverwandelt, der hier aufblitzt, dort einen Sprung macht, in dünnen und klaren Strahlen über einen Stein gleitet, Moos und Wurzeln umspielt, um am Schluss wieder dort anzugelangen, wo er begonnen hatte, bei seinem klaren Ursprung, in einem einfachen aber wohlklingenden Akkord, glasklar und so unendlich schön, dass er den Menschen zu Tränen rührt, aber keineswegs aus Trauer, sondern als ungewolltes Zeugnis und Bestätigung dafür, dass ihm jenes seltene Erlebnis von Schönheit zuteil geworden ist, das entsteht, wenn eine menschliche Seele, die solche Schönheit fühlen und ausdrücken kann, sie den anderen zum Geschenk macht.


Übersetzung: Horst Ogris


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