Carlo Sgorlon

Geboren in Cassaco in Friaul, Studium in Pisa, lebt in Udine. Bisher 20 Romane veröffentlicht. Zahlreiche Preise:
premio Supercampiello, premio Napoli und premio Strega für den Roman
" L'armata del fiumi perduti" ( Die Armee der verlorenen Flüsse - Roman über Karnien zwischen 1941 und 1945, in dem auch das Kosakenschicksal behandelt wird).

Sgorlon gilt wegen seiner Thematiken - Friaul und die Friulaner / Völker mit schwerem Los wie Istrier, Kosaken, Roma und Juden - als großer Epiker gegen den allgemeinen Strom.

Die Schluchten des Plöcken


In Serpentinen ging es dem Paß hinauf. Beiderseits der Straße waren zerschossene Häuser und zerstörte Grenzwachposten.
Es war schon Mai, doch die Kälte war schneidend, es begann sogar zu schneien. Die Verwundeten lagen auf dem Karren, Fieber verursachte ihnen Schwindelanfälle oder sie stöhnten vor Schmerzen. Am Straßenrand ritten Wachtposten, die verhindern sollten, dass die Kolonne in einen Hinterhalt der Partisanen geriet. Doch die Partisanen griffen dieses Volk von überlebenden Verzweifelten nicht mehr an. Große Fichtenwälder säumten die Straße, die sich am Berghang entlang wand. In der Nachte überholte eine Kolonne Berittener in weißen Uniformen, Alpinsoldaten nicht unaähnlich, die Kosaken. Es waren slawische Soldaten des Generals von Pannwitz. Aus der Gegenrichtung kamen im Laufschritt Geiseln, die die Division nicht erschossen hatte. Eine allgemeine Müdigkeit breitete sich aus; alle wollten alles so lassen wie es war und endgültig alle mörderischen Regeln des Krieges abschütteln. In der Nacht hörte man das Kreischen der Karren und das Reiben von nassen Uniformen und Mänteln. Die Straße war voller Morast, weil der fallende Schnee sofort schmolz. Die Pferde strauchelten auf dem glitschigen Grund, die Wagen versanken im Schlamm.
In tiefer Nacht erreichten sie die Paßhöhe. Von allen Seiten wurden Rufe laut: "ÖSTERREICH, ÖSTERREICH!" Jetzt, da die Grenze hinter ihnen lag, schien es ihnen, al ob sie einen wundersamen Ausgang gefunden hätten. Vor ihnen wuchsen grau und verschneit die Norischen Alpen in den Himmel. Das also war österreich, aber es bedeutete noch lange nicht Frieden, Rast, Sicherheit und ganz gewiß nicht Heimat, sie war unendlich fern und unerreichbar. Urvan stellte sogar mit unwilliger Besorgnis fest, dass sie der Roten Armee entgegenzogen. Der Marsch dauerte den ganzen folgenden Tag. Gegen Abend begann es wieder zu schneien an; eine Nacht, wie geschaffen für Wölfe und Shcmuggler, deckte sie zu. Von allen Seiten pfiff der Wind, bildete Schneewirbel, die Sicht und Orientierung behinderten. Unter der dünnen Schneedecke gefror der Boden genau zu dem Zeitpunkt, als die Kolonne die Schluchten des Plöckenpasses erreichte. Die Pferde bewegten sich mit äußerster Vorsicht, es halft nichts. Einer der Karren begann plötzlich gegen den Abgrund zu rutschen, das Pferd stemmte verzweifelt die Hufe in den Boden, umsonst. Es war der Karren der Dunajka. Die Kosaken, die ihm am nächsten waren, schrien auf, Urvan und Girej rannten hin, aber es war zu spät. Sie konnten nichts mehr tun. Pferd und Karren wurden schneller, bis sie ins Verderben stürzten, vom Grund der Schlucht hörte man den Verzweiflungsschrei der Frau. ...

In die kalten und finsteren Wälder sickerte unaufhörlich der Regen, der mit dem Fön eingesetzt hatte. Vom Ende der Kolonne kam die Nachricht, dass Krasnov befohlen habe, sich den Allierten zu ergeben. Eine Welle der Erleichterung ging durch die Kolonne, während die Karren immer noch die vereiste Straße entlang rutschten. Plötzlich hörte man aus der Ferne das Brummen von Jagdflugzeugen. "Nein, nicht hier! Nicht in diesen Schluchten!" dachte Urvan. Er gab den Befehl, bei die Bremsen der Karren anzuziehen, er selbst aber stürzte fort, um die Bremskurbel am Wagen einer muslimanischen Kosakin mit drei Kindern, die im Kampf im Tal Gorto zur Witwe geworden war, zuzudrehen. Im nächsten Augenblick waren die Flieger schon über der Kolonne und begannen sie zu beschießen und zu vernichten. Die aufgescheuchten Pferde fielen in den Galopp und schleiften in Panik die eingebremsten Wagen nach sich, strauchelten und stürzten schließlich in die teuflischen Schlünde des Passes. Girej wendete unwillkürlich seinen Blick in Richtung Urvan und sah, wie er unter den Schreien der anderen mit dem Karren der Witwe in die Tiefe stürzte. ...

Etwas nördlich der Plöckenschluchten ergab sich die Kosakenarmee den Engländern. Sie mussten in ein Lager bei Peggetz an der Drau, die durch Schneeschmelze und Frühjahrsunwetter stark angewachsen war. Die Kosaken stellten ihre hutähnlichen Jurten auf und errichteten Baracken. Die wenigen Pferde, die sich gerettet hatten, gingen zur Tränke an den Fluss....

Das Lager war riesig, mehrere zehntausend Menschen fanden in ihm Platz. Zwischen den Jurten und Baracken lebte der uralte Stammesgeist wieder auf, als hätte sich das Volk der Kosaken um Jahrhunderte verjüngt, allem zum Trotz, was geschehen war und trotz der großen Verluste, waren alle irgendwie optimistisch gestimmt, weil die Engländer verzichtet hatten, ihnen die Waffen abzunehmen. Ein jeder mutmaßte für sich, wohin man sie am Ende dieser geheimnisvollen Quarantäne schicken würde. Im unendlich großen britischen Imperium musste es selbst für sie ein Flecken geben. Sie wären mit einem Ort am Ende der Welt zufrieden gewesen; ihnen reichte ein Fluss, eine Steppe, die Savanne – und sie konnten sich vorstellen, wieder eine Heimat gefunden zu haben.
Doch manche Zeichen kündeten Unheil an. Der Führungsstab der Kosaken, die Generäle und Atamane, denen das Volk Jahr um Jahr blind gefolgt war und die zum Mythos geworden waren, Krasnov, Skur, Poluwin, Naumik, und sogar jene, die zwielichtig und finster verschlossen waren, wie Vlasov und Domanov, wurden abgeholt und nach Lienz ins Hotel "Zum goldenen Fisch" gebracht. Die Engländer behaupteten, das geschehe aus reiner Höflichkeit, um ihnen das erniedrigende Leben in den Baracken, das sie nicht gewohnt waren, zu ersparen. Flüsternd vertraute ein alter Tatare Girej an, die Engländer beraubten sie mit List ihrer Anführer, das Volk der Kosaken aber sei ohne seine Atamanen wie ein riesiger kopfloser Körper, dem jede Entscheidungsmöglichkeit genommen sei ....

Beim Treffen der drei Großen auf Jalta hatte Stalin unter anderem genau das, die Übergabe der Kosaken, gefordert, Engländer und Amerikaner hatten dem zugestimmt. So erfüllte sich schließlich der Verrat, den viele verräterische Zeichen angekündigt hatten. ...

Es war am ersten Juni nach dem Gottesdienst, den die Popen im Lager hielten, als verkündet wurde, was alle längst wussten, aber verzweifelt nicht hatten glauben wollen: daß alle Kosaken in ihre Heimat zurückmußten. Panik und Schrecken bemächtigten sich ihrer und sie verkrochen sich im Lager wie eine Herde wildgewordener Eber. Den kopflosen Versuch einer Massenflucht stoppte das Feuer britischer Maschinengewehre. Da ergriffen Hundertschaften von Kosaken die einzige noch verbliebene Möglichkeit zur Flucht: Mit wildem Geschrei begannen sie vom Ufer aus in das eisige Wasser der Hochwasser führenden Drau zu springen. Es war ein kollektiver Selbstmord wie ihn die Geschichte noch nicht gesehen hatte. Ähnliches wird nur vom Fall Karthagos, Numantias oder Jerusalems berichtet.
Das Schreien glich dem Brüllen verwundeter Tiere; als es verstummte, herrschte tragische Stille. Tage später erst begann der Fluss in seinem Unterlauf die Leichen der Ertrunkenen freizugeben. Die Engländer zogen sie mit langen Stangen ohne Emotion ins Trockene und stapelten sie am Ufer wie durchnässte Holzblöcke auf. Dunkle Körper, die der Tod wie Balge aufgeblasen hatte, trieben die Drau hinunter. Aber das war nicht die einzige Todesart, die das Ende der Kosaken besiegelte. Als die Waffen abgeliefert werden mussten, war es manchen gelungen, seine Pistole unter einem Erdhügel oder einem Laubhaufen zu verstecken; die jagten sich jetzt eine Kugel in den Kopf. Unt Tag für Tag warf die Morgenröte ihr Licht auf eine Hundertschaften von Selbstmördern, die sich mit Lederriemen, geflochtenen Stricken, Bändern aus zerrissenen Säcken oder anderen Hilfsmittel erhängt hatten.

Übersetzung: Horst Ogris


Home              Ende